Klischees über Einzelkinder
von Dr. phil. Sonja Deml | 26. Februar 2020
Einzelkinder werden bemitleidet, da sie einsam aufwachsen. Sie gelten als egoistisch, egozentrisch, verwöhnt und dominant. Stimmen diese Klischees?
Einzelkinder sind mit vielen Vorurteilen behaftet, denn ihnen werden aufgrund der fehlenden Geschwister und der zentralen Stellung innerhalb der kleinen Familie unsoziales Verhalten und unsoziale Charaktereigenschaften attestiert. Ein Einzelkind ist dem Klischee nach egozentrisch, egoistisch und dominant. Es ist der Mittelpunkt der Familie und die Eltern verwöhnen das Kind zu seinem Schaden. Außerdem gelten Einzelkinder als intolerant. Trifft all das wirklich auf Einzelkinder zu?
Die Zahl der Einzelkinder in Deutschland
In Deutschland leben etwa 13 Millionen Kinder und Jugendliche und 26% von ihnen sind Einzelkinder. Dabei sind Familien mit Einzelkindern unterschiedlich verteilt – in Großstädten leben 30% Einzelkinder, in ländlichen Gebieten lediglich 24%. Dieses Phänomen hat mehrere Gründe: hohe Mieten, die sich nur zwei Vollzeitarbeitende leisten können und begrenzter Wohnraum in der Stadt mögen eine Rolle für die Entscheidung zu nur einem Kind spielen. Auf dem Land ist der Familienverbund möglicherweise noch stärker und Großeltern können die Familie unterstützen, so dass die Entscheidung für weitere Kinder eventuell leichter fällt. Vielleicht spielt auch ein klassischeres Bild von der kinderreicheren Familie mit mehr Platz zum Leben außerhalb von Großstädten eine Rolle. Eltern mit einem Kind stellen das dritthäufigste Familienmodell in Deutschland dar. An oberster Stelle stehen die Singlehaushalte, gefolgt von Zwei-Kinder-Familien. Am vierthäufigsten ist das Familienmodell Alleinerziehend mit einem Kind und am seltensten sind Großfamilien.
(Quelle: https://www.fr.de/wissen/einzelkind-klischees-sagen-studien-herausgefunden-haben-13244230.html).
Einzelkinder und ihre Klischees
Verdirbt es tatsächlich den Charakter, wenn ein Kind in der Familie alleine aufwächst? Es ist nicht einfach, das zu untersuchen, denn jeder Erstgeborene ist zunächst ein Einzelkind und wenn ältere Geschwister bereits den Haushalt verlassen haben, können jüngere als Einzelkinder aufwachsen ohne ein klassisches Einzelkind zu sein. Einzelkinder werden vielfach bedauert, da sie einsam unter Erwachsenen aufwachsen. Sie haben niemanden zum Spielen in ihrem Alter und sie können Sozialkompetenzen, die aus dem Geschwisteralltag heraus entstehen, nicht erwerben. Außerdem können Einzelkinder nicht teilen, lautet ein verbreitetes Klischee. Da ihnen alles alleine gehört und sie womöglich Spielsachen im Überfluss haben, werden sie von ihren Eltern zu sehr verwöhnt. Schließlich konzentriert sich die elterliche Liebe auf ein Kind. Das Kind erkennt seine Machtkompetenzen, es wird dominant, ist gerne der Anführer und hat Probleme, sich in Gruppen einzufügen. Diese Klischees können stimmen oder nicht. Kaum ein Einzelkind wächst völlig alleine auf: In der Spielgruppe, im Kindergarten oder in der Schule muss es sich in Gruppen mit Gleichaltrigen beweisen und erwirbt Sozialkompetenzen.
Einzelkinder und ihr Charakter
Wir alle sind durch unser Aufwachsen geprägt und je mehr elterliche Liebe uns zuteilwird, desto selbstsicherer gehen wir durchs Leben. Einzelkinder- und Geschwisterkinder haben individuelle Bedürfnisse. Für das eine Kind ist es richtig, ohne Geschwister aufzuwachsen, einem anderen Kind tun seine Geschwister gut. Zu große Rivalität unter Geschwistern kann dominantes Verhalten fördern und bei ständigen Geschwisterstreitigkeiten ist der Leidensdruck hoch. Den Kindern fehlt die nötige Ruhe, um sich gut zu entwickeln. Sie stehen unter Stress. Einzelkinder sind oft entspannter, da der Konkurrenzdruck wegfällt. Einzelkinder können unter ihrem Status leiden, wenn der Wunsch nach Geschwistern groß ist und sie sich einsam fühlen oder mit ihrem Status als Mittelpunkt der Familie überfordert sind. Denn nicht alle Einzelkinder stehen gerne im Zentrum und übernehmen (auch später im beruflichen Leben) gerne Führungspositionen. Einzelkinder können je nach angeborenen Charaktereigenschaften und Erziehung sowie individuellen Lebenserfahrungen sehr sozialkompetent oder wenig sozialkompetent sein. Hierzu ist nicht (nur) die Familienkonstellation ausschlaggebend, sondern der Umgang innerhalb der Familie, mit Außenstehenden und anderen Bezugspersonen.
Einzelkindstudien
Es gibt viele Studien, die sich mit der Situation von Einzelkindern beschäftigen. Zahlreiche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass es keine oder kaum relevante Unterschiede zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern gibt, wie zum Beispiel die Arbeiten von Ann Layborn, Toni Falbo oder Judith Blake. Wiederum andere Studien wollen Unterschiede in der Sprachentwicklung, bei der Kreativität oder im Bereich Intelligenz feststellen. Allerdings sind diese Bereiche so komplex, dass man die Entwicklung nur schwer auf den Parameter Einzelkind beschränken kann. In der Regel kommt es darauf an, welche kognitiven Voraussetzung ein Kind bereits von Geburt an hat, wie motiviert Eltern sind, ihr Kind zu fördern und was es von möglichen Geschwistern lernen kann: Positives und Negatives!
Was denkst du – treffen die Klischees auf Einzelkinder wirklich zu? Wir freuen uns auf deinen Kommentar.
Foto: Porapak Apichodilok von Pexels – Canva.com
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