Einzelkinder – Vorurteile und wissenschaftliche Erkenntnisse
von Dr. phil. Sonja Deml | 21. Mai 2013
Es gibt viele Vorurteile gegenüber Einzelkindern, doch wissenschaftliche Erkenntnisse über geschwisterlose Kinder zeigen...
In Deutschland wächst fast ein Drittel aller Kinder als Einzelkind auf. Über Einzelkinder gibt es viele Vorurteile und die geschwisterlosen Kinder nehmen sich besonders wahr. Dabei werden Einzelkinder oftmals negativ beurteilt und gelten als arrogant, selbstbezogen usw. Hartmut Kasten ist Professor für Psychologie und beschäftigt sich mit Einzelkindern – mit Kindern, die mindestens sechs Jahre lang in einem Haushalt ohne Geschwister aufgewachsen sind. Er hat die aktuelle wissenschaftliche Forschung über Kinder ohne Geschwister analysiert und kann uns wichtige Erkenntnisse über das Leben in Einkindfamilien geben.
Gründe für die steigende Zahl von Einzelkindern
Dass immer mehr Kinder ohne Geschwister bleiben, hat unterschiedliche Gründe: Das kann daran liegen, dass die Familie ihren Lebensstandard mit einem zweiten Kind weiter einschränken müsste. Ferner sehen manche Familien keine Möglichkeit, eine Betreuung für zwei oder mehr Kinder zu finden, wenn beide Elternteile (wieder) berufstätig sind – berufliche Ambitionen lassen sich mit einem Kind leichter verwirklichen. Hartmut Kasten nennt auch die steigende Trennungsbereitschaft als Grund für die höheren Zahlen von Einzelkindern. Weiter spielt „sekundäre Sterilität“ eine Rolle. Das heißt, der Kinderwunsch lässt sich aus biologischen Gründen nicht mehr verwirklichen. Schlechte Erfahrungen mit den eigenen Geschwistern, eine ungünstige Wohnsituation und enge finanzielle Verhältnisse können eine Rolle spielen. Manchmal wünscht sich nur ein Elternteil weitere Kinder.
Einzelkinder werden meistens nicht geplant, sondern sind das Ergebnis der Lebensumstände oder der Erfahrungen, welche die Familie in der Gesellschaft macht.
Einzelkinder: gängige Vorurteile
Einzelkindern werden Persönlichkeitseigenschaften zugeschrieben, welche sich durch ihren Status als einziges Kind in der Familie herausbilden sollen. Sie werden häufig als egoistisch, verwöhnt und verzogen, wehleidig, altklug, frühreif, unsozial bzw. rücksichtslos, introvertiert und sogar neurotizistisch bezeichnet. Einzelkinder gelten also als eher problematische Kinder und Geschwister würden sich positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken – lauten weitere Vorurteile. Dabei wird besonders betont, dass Geschwister besser teilen könnten. Nicht selten werden Einzelkinder gefragt, ob sie lieber Geschwister hätten und die Eltern spüren Unverständnis, Missbilligung und Besorgnis. Das schmerzt besonders, wenn die Familie aufgrund biologischer Ursachen nicht erweitert werden kann. Aber wer will einen unerfüllten Kinderwunsch so offen zugeben?
Unterschiede zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern
Es ist wissenschaftlich nicht klar erwiesen, ob es Einzelkinder oder Geschwisterkinder besser haben. Viele Einzelkinder hätten gerne Geschwister, wiederum andere genießen ihr Dasein als einziges Kind. Es wird vermutet, dass Einzelkinder mehr Freiraum haben, um ihre Individualität auszuleben. Ihnen gebührt mehr Zuwendung und Zeit mit den Eltern. Ferner müssen sie weniger materielle Dinge teilen, weniger um Rechte mit anderen kämpfen und es gibt keine Geschwisterrivalität. Dafür gibt es auch keine geschwisterlichen Gefährten im Alltag, mit denen sie sich beispielsweise gegen die Eltern solidarisieren können. Einzelkinder haben weniger Freunde und lesen zum Beispiel lieber.
Geschwisterkinder haben dafür einen breiteren sozialen Erfahrungsspielraum und verwenden in ihrer Sprachentwicklung eher die Personalpronomen „ich“ und „du“. Sie langweilen sich seltener. Allerdings können sie weniger Zeit mit ihren Eltern alleine verbringen und sie haben häufiger überforderte Mütter. In Mehrkindfamilien wird öfter die traditionelle Rollenverteilung von den Eltern praktiziert, wohingegen das Rollenklischee in Einkindfamilien weniger ausgeprägt zu sein scheint. Interessant ist zudem, dass Einzelkinder beruflich erfolgreicher sind, da sie häufig mehr Zuwendung und Förderung erhalten.
Fazit: Es gibt im Prinzip keine typischen Charaktereigenschaften von Einzelkindern. Vielmehr prägen die Lebensumstände die Persönlichkeit und das bedeutet, dass das Leben als einziges Kind Spuren hinterlassen kann.
Quelle: Kasten, Hartmut (2007): Einzelkinder und ihre Familien. Hogrefe, Göttingen
Foto: sjhuls – Fotolia.com
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