Kinderbetreuung im Wechselmodell
von Dr. phil. Sonja Deml | 4. November 2014
Interview mit Prof. Hildegund Sünderhauf zur Kinderbetreuung im Wechselmodell. Vorteile der wechselseitigen Kinderbetreuung gegenüber dem Residenzmodell...
Interview mit Prof. Hildegund Sünderhauf
Neue Väter und neue Mütter möchten sich gleichermaßen um die Kinder kümmern. In vielen modernen Familien funktioniert das auch recht gut. Kommt es aber zur Trennung bzw. Scheidung, droht der Rückfall in eigentlich überholte Rollenmuster, wenn die Kinder bei der Mutter leben und der Vater in erster Linie für die finanzielle Versorgung da ist. Das Wechselmodell könnte diesen Rückschritt verhindern, sagt die Familienrechtsexpertin Prof. Hildegund Sünderhauf. Doch Deutschland ist in dieser Hinsicht rückständig. Wir fragen Prof. Sünderhauf nach den Gründen und werfen mit ihr einen Blick in das Leben „nach der Familie“ in anderen Ländern.
Warum sieht der Staat hierzulande überhaupt das Residenzmodell vor?
Hildegund Sünderhauf: Im Residenzmodell wohnen die Kinder bei einem Elternteil und besuchen den anderen Elternteil. Gemäß statistischem Bundesamt von 2013 sind 90% der alleinerziehenden Familien mit Kindern unter 18 Jahren „Mutterfamilien“ und nur knapp 10% „Vaterfamilien“. In Zahlen sind das 167.000 Väter gegenüber 1,45 Millionen Müttern. Meist leben die Kinder also bei ihren Müttern und besuchen ihre Väter. Das Residenzmodell führt so die in der „Hausfrauenehe“ praktizierte Rollenaufteilung nach Trennung und Scheidung fort. Für moderne Familien, in denen sich beide Eltern um die Versorgung und Erziehung der Kinder kümmern und in denen beide Eltern erwerbstätig sind, bedeutet es einen Rückschritt in geschlechtsspezifische Elternrollenzuschreibungen, die diese längst überwunden zu haben glaubten. Das Residenzmodell wird deswegen den Bedürfnissen möglichst gleichberechtigter Partnerschaften nicht gerecht. Das Residenzmodell ist der „Leitgedanke“ des BGB in Fragen der elterlichen Sorge und des Umgangsrechts, denn das BGB stammt aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Gesetzgeber hat bisher bei allen BGB-Reformen noch nie über Alternativen zum Residenzmodell nachgedacht. Aber das Residenzmodell ist weder gottgegeben, noch aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten oder gar dem Kindeswohl geschuldet – das Gegenteil ist der Fall. Das Residenzmodell ist lediglich die konsequente Fortführung der Hausfrauenehe, die das vorherrschende Familienmodell bis in die Nachkriegszeit gewesen ist. Dieses Familien-Ideal hat aber ausgedient! In modernen Familien sind sowohl Mütter als auch Väter erwerbstätig und teilen sich Kinderbetreuung und Hausarbeit. So ist es konsequent, wenn Eltern nach Trennung und Scheidung nicht die „Rolle rückwärts“ in eine längst überholte Rollenaufteilung machen, in der ein Elternteil erwerbstätig ist und der andere die Kinder betreut, sondern das bisherige Familienverständnis weiter praktizieren: im Wechselmodell.
Was ist gegen das Argument, das Wechselmodell ermögliche kein festes Zuhause, einzuwenden?
Hildegund Sünderhauf: Es ist empirisch erwiesen, dass Kinder sich gut daran gewöhnen können, zwei Zuhause zu haben und dies rasch als Normalität empfinden. Wichtiger als geografische Kontinuität ist nämlich emotionale Stabilität in den Beziehungen zu engen Bezugspersonen, und diese bietet das Wechselmodell viel eher als das Residenzmodell. Sich bei Vater und Mutter zuhause fühlen gelingt jedoch besser, wenn sie ungefähr gleich viel Zeit bei Mutter und Vater sind und mit diesen auch ihren und deren Alltag teilen.
Welche Vorteile bietet das Wechselmodell gegenüber dem Residenzmodell und für welche Familien ist es geeignet?
Hildegund Sünderhauf: Die Betreuung im Wechselmodell sichert Kindern die für ihre Entwicklung unverzichtbare emotionale enge Bindung zu beiden Eltern und die kontinuierliche Teilnahme an ihrem Alltagsleben. Müttern und Vätern ermöglicht es, die Vereinbarung von Familienleben und Erwerbstätigkeit fortzusetzen – so sind Kinder, Mütter und Väter Profiteure des Wechselmodells. Es ist vielfach empirisch nachgewiesen, dass Kinder im Wechselmodell eine gleich enge Bindung an beide Eltern entwickeln (oder fortführen) wie Kinder, die mit Mutter und Vater zusammenleben. Das Wechselmodell ist generell zunächst einmal für alle Kinder und alle Familien geeignet. Voraussetzung ist, dass die Eltern grundlegende Erziehungseignung haben und nicht zu weit auseinander wohnen. Konkret bedeutet dies, dass Schulkinder von beiden Eltern aus die Schule erreichen können müssen oder ein Internat besuchen. Bei Kindern, die noch nicht zur Schule gehen, müssen die Wege zwischen den Eltern zumutbar sein. Allerdings werden gerade auch im Residenzmodell manchen Kindern und Eltern sehr weite Wege zugemutet, um den Nichtresidenzelternteil treffen zu können. Einschränkungen können sich ergeben, wenn die Beziehung zwischen Kind und einem Elternteil aufgrund vorangegangener Erlebnisse tiefgreifend gestört ist, was aber sehr selten der Fall ist. Wenn die Eltern in tiefgreifende Konflikte verwickelt sind oder eine schlechte Konfliktkultur pflegen, müssen sie gegebenenfalls mit professioneller Unterstützung daran arbeiten, diese zu verbessern – dies gilt aber unabhängig vom Betreuungsmodell.
Ausgeschlossen werden muss eine Wechselmodellbetreuung, wenn ein Elternteil nicht erziehungsgeeignet ist, etwa wegen Suchterkrankung oder Gewalttätigkeit – die sind dann die Fälle, in denen auch keine Besuche im Residenzmodell möglich sind.
Welche Erfahrungen gibt es in anderen Ländern?
Hildegund Sünderhauf: Deutschland hat eine destruktive und kindeswohlfeindliche Trennungs- und Scheidungskultur und viele Professionen berichten von zunehmend aggressiv und rücksichtslos geführten „Kämpfen ums Kind“. Dies wird durch das Festhalten am Residenzmodell unterstützt und teilweise sogar gefördert. Das Festhalten am Residenzmodell im deutschen Familienrecht ist, im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen, als durchaus rückständig zu bezeichnen. Der „Trend“ zum Wechselmodell ist in allen westlichen Industrienationen zu beobachten und auch in Deutschland boomt das Wechselmodell seit einigen Jahren. In Schweden beispielsweise ist das paritätische Wechselmodell der Betreuungs-Normalfall: Rund ein Drittel der Kinder getrenntlebender Eltern (aller Altersgruppen) wird in paritätischer Doppelresidenz nach 50:50%-Definition betreut und die Hälfte der Trennungskinder in der Altersgruppe von sechs bis neun Jahren. Auch in Belgien ist das Wechselmodell der Betreuungsnormalfall. Eltern wissen das und es gibt in diesen Ländern so etwas wie einen common sense, dass man die Trennung als Paar nicht auf dem Rücken der Kinder ausficht. Das alleinige „Besitzrecht“ am Kind wagt dort kaum mehr jemand für sich zu erheben – anders in Deutschland, wo man mit dieser Haltung vor Gericht noch häufig durchkommt.
Beim Residenzmodell erhält der Elternteil, bei dem das Kind überwiegend lebt, Unterhalt – könnte das ein Grund sein, warum sich das Wechselmodell nicht durchsetzt?
Hildegund Sünderhauf: Das Unterhaltsrecht muss in Deutschland dringend reformiert werden. Es ist ungerecht und verfassungswidrig, wenn ein Elternteil, der sein Kind zum Beispiel 40% der Zeit betreut den gleichen Unterhalt zahlen muss, wie ein Elternteil, der sein Kind niemals sieht und ihm nicht einmal am Wochenende ein Eis kauft. Schließlich entlastet der betreuende Elternteil den anderen, so dass dieser erwerbstätig sein kann und muss selbst unter Umständen sogar seinen Arbeitsumfang einschränken. Dieses Unterhaltsrecht ist eben auch noch Ausdruck der Idee von der Hausfrauenehe: die Frau sorgt für die Kinder und der Mann bezahlt – in der Ehe, wie nach der Scheidung. Dass dies kein zeitgemäßes Unterhaltsrecht mehr ist, hat der Gesetzgeber schon im Hinblick auf den Betreuungsunterhalt erkannt, wenn seit 2008 verlangt wird, dass der Kinder betreuende Elternteil ab dem 3. Lebensjahr des jüngsten Kindes für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommt und keinen Betreuungsunterhalt mehr bekommt. Es ist nicht einzusehen, warum er sich nicht auch an der ökonomischen Verantwortung für die Kinder beteiligen sollte, wenn der andere auch erhebliche Betreuungszeitanteile übernimmt, die über reine Wochenendbesuche hinausgehen.
Was muss sich Ihrer Meinung nach rechtlich und gesellschaftlich ändern, damit Kinder genauso viel Zeit mit Mama und Papa verbringen dürfen?
Hildegund Sünderhauf: Es bedarf zunächst einer klarstellenden Gesetzeserweiterung, die vorsieht, dass Eltern nach Trennung und Scheidung weiterhin gemeinsame Verantwortung für ihre Kinder haben und zwar haben dürfen und haben müssen. Dies bedeutet nämlich auch, dass Eltern sich nicht entziehen dürfen. Schließlich gibt es auch eine Menge Eltern (häufig sind dies Väter), die einfach aus dem Leben des Kindes verschwinden wollen, das darf man nicht vergessen. Weiteren dringenden Entwicklungsbedarf sehe ich in der Arbeitswelt, die es immer noch für Frauen und Männer schwierig macht, Kinderbetreuung mit Erwerbstätigkeit zu vereinbaren. Auch der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Schließlich muss eine Selbstverständlichkeit werden, dass Kinder Mutter und Vater brauchen und ein Recht darauf haben, mit diesen zusammenzuleben und von ihnen betreut und erzogen zu werden – so wie es in Art. 6 unserer Verfassung steht.
Viele Väter würden ihre Kinder gerne im Wechsel betreuen, müssen jedoch um den Umgang mit ihren Kindern kämpfen. Eine Umfrage von Match-Patch ergab, dass nur 23% der Väter den Umgang mit ihren Kindern zufriedenstellend finden. Was raten Sie Vätern, die ihr Kind gerne öfter sehen oder sogar im Wechsel betreuen möchten?
Hildegund Sünderhauf: Diesen Vätern – genauso wie Müttern, die aus der Elternrolle ausgegrenzt werden – kann ich nur raten, sich bewusst zu sein, dass sie das richtige Ziel verfolgen, das für ihre Kinder, für sie, aber auch für den anderen Elternteil Vorteile hat. Die Wege dahin müssen im Einzelfall gesucht werden. Vernetzen Sie sich mit Gleichgesinnten, das tut immer gut. In der Öffentlichkeit ist es wichtig, die massenhafte Ausgrenzung von Eltern zu thematisieren – welcher Mann traut sich schon öffentlich zuzugeben, dass er sein Kind vermisst? – und an die politischen Entscheidungsträger(innen) heranzutragen. Wir sind in einer Zeit des Umbruchs, es hat schon begonnen und das Wechselmodell kommt. Einfach, weil es richtig ist.
Vielen Dank!
Wie das Wechselmodell in der Praxis funktionieren kann, erfahren Sie in diesem Artikel.
Ein Interview mit dem Dipl. Kinder- und Familienpsychologen Jan Piet H. de Man, der in Belgien an der gesetzlichen Verankerung des Wechselmodells beteiligt war, lesen Sie hier.
Umfangreiche Informationen und internationale Forschungsergebnisse zum Wechselmodell finden Sie in Prof. Dr. jur. H. Sünderhaufs Buch: Wechselmodell: Psychologie – Recht – Praxis: Abwechselnde Kinderbetreuung durch Eltern nach Trennung und Scheidung (2013)
Foto: © Production Perig – Fotolia.com
Das war doch mal eine wirklich vielschichtige, umfassende Beleuchtung des Wechselmodells, mit seinen Potentialen aber auch Grenzen – und erfreulichem Hinweis auf massiven gesetzlichen Reformbedarf, nicht aus ideologisiertem Genderdenken, sondern im Sinne von gelassener Gleichberechtigung und zum Wohl der Kinder. Andere Länder in Europa sind uns da in der Tat weit voraus