Ist mein Kind verhaltensauffällig oder gar hyperaktiv?

von | 21. Oktober 2013

Wie kann ich feststellen, ob mein Kind verhaltensauffällig oder hyperaktiv ist? Natürlicher Bewegungsdrang und Hyperaktivität. Behandlungsmöglichkeiten...

Kind verhaltensauffaelligImmer mehr Kinder bekommen die Diagnose „verhaltensauffällig“ oder „hyperaktiv“ und machen eine Therapie. Unser Blick auf Kinder hat sich verändert, aber woran liegt es noch, dass der frühere „Zappelphilipp“ heute ein hyperaktives – also krankes – Kind ist? Ich habe den Kinderarzt Dr. Jens Grombach aus Neuötting und Clemens Janssen, wissen-schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Familienforschung und Entwicklungspsychologie der Universität von Arizona, nach den Ursachen gefragt.

Natürlicher Bewegungsdrang und Hyperaktivität

Clemens Janssen: Das Thema kann von mehreren Seiten beleuchtet werden. Zum einen kann gesagt werden, dass es wohl eine gewisse Grauzone zwischen „normalem Verhalten“ und „krankhaft hyperaktiv“ gibt und auch, dass der normale Bewegungsdrang von Kindern gesellschaftsbedingt oftmals unterbunden wird. Von einer anderen Seite beleuchtet kommt der Begriff Zappelphilipp aus einer Zeit, als das Verhalten der Kinder den Eltern gegenüber noch sehr distanziert war. Oftmals haben die Kinder ihre Eltern mit „Sie“ angesprochen und die Tischmanieren waren konträr zu den heutigen. Was damals als Zappelphilipp bezeichnet wurde hätte nach heutigen Erkenntnissen dem normalen Bewegungsdrang eines Kindes entsprochen. Es liegt in der Einschätzung des Arztes, zu erkennen ob es sich um das Ausleben des normalen Bewegungsdrangs oder um eine krankhafte Hyperaktivität handelt.

Dr. Jens Grombach: Die Gesellschaft sitzt aktuell sehr stark aufeinander, Stichwort Verstädterung, und wir haben einen immer höheren Zeitdruck. Viele Familien sind angespannt, weil sie mehrere Termine an einem Tag haben. Das mag ein Auslöser sein. Normale Auffälligkeiten werden heute eher erkannt, da genauer hingeschaut wird, aber die Freiräume für Kinder werden immer weniger. Früher lief ein Kind im Feld herum, da hat es keiner gesehen. Heute läuft ein Kind auf dem engen Gehweg hin und her und jeder Ausfallschritt wird als Abweichung wahrgenommen. Generell werden Auffälligkeiten gefördert, indem versucht wird, das Kind in die engen Gesellschaftsstrukturen einzubinden

Verhaltensauffälligkeit beim Kind erkennen

Dr. Sonja Deml: Woran erkennen Eltern, ob ihr Kind verhaltensgestört ist? Können Eltern frühzeitig etwas dagegen unternehmen?

Dr. Jens Grombach: Beobachten! Wie kommen sie unter Gleichaltrigen und in der Gruppe klar als wichtigstes Kriterium. Allgemein Kindern Freiräume schaffen, aber es gibt auch Erziehungsberatung, Familienhilfe, Kindergärten, Kinderarzt und Ratgeberliteratur. Kinder brauchen früh Strukturen und den Wechsel von Konzentrationsspielen und aktiven Spielen wie Austoben, was dem natürlichen Bewegungsdrang des Kindes entgegenkommt.

Clemens Janssen: In erster Linie sollten sich Eltern bei Auffälligkeiten fragen, ob ihre Kinder dem natürlichen Bewegungsdrang folgen können, oder ob der familiäre Alltag das nicht zulässt. Wenn erkannt wird, dass die Kinder – oder die ganze Familie – ein offensichtliches Bewegungsdefizit haben, sollte in erster Linie der Bewegungsumfang und die Bewegungsfreiheit gesteigert werden. Oftmals regulieren sich „Verhaltensauffälligkeiten“ dadurch bereits. Wenn trotz großzügigem Bewegungsumfang Auffälligkeiten bestehen, sollte ein Facharzt konsultiert werden. Es gibt klar Anzeichen, dass Ernährungsverhalten, Bewegungsverhalten und familiäre Nähe – speziell der Mutter zum Kind – präventiv für Verhaltensstörungen wirken. Ein Beispiel ist die optimale Entwicklung des Nervensystems, welche eindeutig durch Stillen des Kindes beeinflusst werden kann. Zucker – auch Fruchtzucker und gesüßte Getränke – sowie probiotische Nahrungsmittel sollten nach der aktuellen Datenlage reduziert werden.

Wenn Pädagogen auf eine Verhaltensstörung hinweisen

Dr. Sonja Deml: Was sollten Eltern unternehmen, wenn sie von einem Erzieher oder Lehrer den Hinweis erhalten, ihr Kind sei verhaltensauffällig? Für die Eltern ist das sicherlich ein Schock.

Dr. Jens Grombach: Nicht zu sehr schocken lassen, immer ruhig und gelassen bleiben und sich nicht zu sehr verunsichern lassen, weil die Erzieher und Lehrer eine andere Wahrnehmung haben, da sie die Kinder in der Gruppe sehen und in der 1:1-Situation werden Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen immer diagnostisch gemessen. Einfach mal testen lassen und dem Hinweis nachgehen, um die Interaktion mit dem Pädagogen nicht zu beeinträchtigen.

Medikamentöse Behandlung von hyperaktiven Kindern

Dr. Sonja Deml: Es werden auch mehr Medikamente wie Ritalin an Kinder verabreicht. Ist das wirklich immer notwendig – die Diagnose „hyperaktiv“ lässt sich ja nicht so einfach bzw. eindeutig stellen? Und was sind die Gefahren, wenn Kinder schon von klein auf spüren, dass sie nur „unter Drogen“ für ihre Umwelt erträglich sind?

Clemens Janssen: Generell sollte vor der Verwendung von Medikamenten das eigene Verhalten nach den aktuellen Studienergebnissen angepasst werden (Ernährung, Bewegung, familiäres Zusammenspiel). Medikamente wie Ritalin haben in extremen pathologischen Fällen seine Berechtigung, da Kinder sonst Entwicklungsdefizite erleiden. Die Einnahme von Medikamenten zeigt sich oft „komfortabel“ für die Eltern, da das „Problemkind“ dann einfacher zu handeln ist. Es liegt also auch in der Abschätzung der Eltern, wie viel Energie sie in die genannten Anpassungen ihres eigenen Verhaltens stecken können und wollen.

Dr. Jens Grombach: Ritalin sehe ich als Hilfe und die Stigmatisierung des Kindes muss ganz klar weg. Wenn die Krankheit diagnostiziert wird, ist Ritalin ein ganz normales Hilfsmittel. Ritalin hat positive Aspekte, denn das Kind wird besser akzeptiert. Kinder haben mit Ritalin auch schulisch und beruflich bessere Möglichkeiten. Ritalin würde ich nicht alleine verschreiben, sondern in ein Setting einbauen. Ich empfehle Biofeedback, Verhaltens- und Ergotherapie. In den Ferien lassen viele Kinder in Absprache mit dem Arzt Ritalin weg und merken, dass sie in entspannterer Atmosphäre weniger oder nichts brauchen.

Alternative Behandlung bei ADHS/ ADS

Dr. Sonja Deml: Gibt es Alternativen zu diesem Medikament?

Dr. Jens Grombach: Strukturieren der Freizeit, Globuli, Naturheilkunde (Hopfenextrakte, Ginkgopräparate , Farbentherapie) und sämtliche Kombinationen sind in Absprache mit dem Kinderarzt möglich.

Clemens Janssen: In extremen Fällen wird es keine effektive Alternative geben. Es sollte eine Anpassung des Ernährungs- und Bewegungsverhalten sowie der familiären Interaktion vor der Einnahme von Medikamenten forciert werden.

Dr. Sonja Deml: Vielen Dank für Ihre Antworten!

Foto: Diane Keys – Fotolia.com

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